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PROJEKT

Ideen für Quinten

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Beschreibung

Marc Antoni Nay

 

Was bedeuten die Texte in Klammern: Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten im Katalog. Der Katalog ist im Download verfügbar.

 

Rückblick auf die Entwürfe für Quinten

Von September 2020 bis Juni 2021 hatte ich die Möglichkeit, das Entstehen von architektonischen Entwürfen zu begleiten und in bescheidenem Masse auch mitzugestalten und das in Quinten, wo ich seit 12 Jahren meinen Wohnsitz habe. Eines der Resultate des Projekts ist: Orte, die ich seit Jahren kenne, nehme ich plötzlich ganz anders wahr.

Dieses Öffnen, diese Veränderung des Blicks auf etwas, das einem bekannt war und das  unveränderlich erschien, scheint mir der wichtigste Beitrag der Entwürfe. Quinten bekommt plötzlich Perspektiven, übermittelt via Modelle, Pläne und täuschend echte Visualisierungen, entworfen von jungen Leuten am Ende ihrer Ausbildung in Architektur.

Aber ist das, was jemand auf Papier bzw. auf den Bildschirm bringt, bereits Wirklichkeit? Zweifelsohne waren die Entwürfe für mich und meine eigene bescheidene Wirklichkeit sehr anregend und haben mir Antworten auf ganz verschiedene Fragen gegeben, die sich mir bezüglich Quinten im Laufe des Projekts gestellt haben. Pro Frage und das bedeutet gleichfalls pro Standort gibt es vier bis fünf Entwürfe und jeder beantwortet die Frage ein bisschen anders. Im Folgenden versuche ich, für jeden Standort mindestens eine Gemeinsamkeit herauszuarbeiten oder zumindest auf entwurfsübergreifende Tendenzen hinzuweisen.

 

Was für einen Tourismus braucht Quinten?

In den Entwürfen zur Au variiert die Nutzung: Werkstatt-Hotel (Jan-Philip Klau 162-165, Jonathan Schneckenburger 170-174), Kräutergarten (Ladina Schmidlin 178-181), Backstube und Dörrlaube (Christina Ruckstuhl 174-177) und Konzertsaal mit Proberäumen (Salome Schepers 166-169) werden vorgeschlagen. Allen ist eines gemeinsam: Sie bieten dem Gast etwas. Das sichert den Betrieb und damit den Lebensunterhalt. Aber sie bereichern auch den Ort, geben ihm eine Bedeutung, die über die touristische Welt des Konsums hinausweist.

Spannend ist, dass sie in ihrer Summe alle Sinne ansprechen: Auge, Ohr, Nase, Mund. Der Tastsinn wird gar überall verwendet, da überall aktiv mit den Händen gearbeitet wird. Der Favorit der meisten Besucher und vor allem der Besucherinnen der Ausstellung war der Kräutergarten. Ich bin auch begeistert davon, denn Quinten besitzt das Klima für diese Art des Gartenbaus.

Sämtliche Projekte in der Au beantworten die Frage „Was für einen Tourismus soll Quinten haben?“ mit: „Einen Tourismus, bei dem ein Teil der Besucher bzw. Besucherinnen zu Akteuren wird“. Wir brauchen Leute, die von jenseits des Sees herüberkommen und uns helfen, Quinten in Wert zu setzen. Zwar bleibt die Mehrheit der Besucher und Besucherinnen nur Konsument, ein Teil davon wird aber zu Akteuren.

„Musikwochen“ und „Hotelzimmer mit Werkstatt“ gehören ins Segment des nachhaltigen Tourismus, weil sie dem Ort etwas zurückgeben. Auch die Arbeit im Kräutergarten oder in Backstube und Dörrlaube kann Teil eines touristischen Angebotes sein, bei dem Gesundheit, Ernährung und der Kontakt mit der Natur im Zentrum stehen.

 

Wie kann man die bestehende Hafenanlage weiterentwickeln?

Beim Hafen haben vier der fünf Projekte, so verschiedenartig sie auch erscheinen, eine Gemeinsamkeit: Der Zugang von und zu den Kursschiffen erfolgt über einen schwimmenden Ponton, wie man ihn von Venedig kennt, wo wie am Walensee grössere Schwankungen bezüglich Wasserspiegel auftreten. Hier wie dort läuft man bei Hochwasser über Gerüstbretter.

Bei zwei Entwürfen (Jan Aeberhard 118-121, Jana Bohnenblust 114-117), hat der Ponton in etwa die Dimensionen der Warteräume für die Kursschiffe der Azienda del Consorzio Trasporti Veneziano in der Lagunenstadt. Wie dort wird der schwimmende Pavillon über einen beweglichen Steg mit dem Festland verbunden.

In zwei Entwürfen ist der schwimmende Teil jeweils relativ klein und in die Konstruktion integriert. Einer davon (Manuel Bokanyi 122-125) zeigt eine grosszügige Piazza, darunter liegt eine „Tiefgarage“ für Privatboote. Ein anderer (Matthias Burkhalter 106-109) verwendet den Typus des Bootshauses als prägendes Gestaltungsmittel und fügt den zwei bestehenden, gegen Westen hin, weitere hinzu. Zwischen den „Docks“ entsteht zudem relativ ruhiges Gewässer für Bootsplätze der Tagesgäste.

Ob Terminal auf den Pfostenreihen eines Wellenbrechers (Claudia Bitzer 110-113), Piazza, Bootshäuser, oder Pavillon auf Ponton, jeder Entwurf hat seinen Reiz und ist es wert, auf Praktikabilität hin geprüft zu werden.

 

Wie lässt sich die Wertschöpfung im Rebbau verbessern?

Die Funktion des Gebäudes war bei dieser Aufgabe klar vorgegeben: Es geht um einen Torkel, ein Gebäude, in dem das Traubengut von Quinten verarbeitet, der junge Wein in Fässern gelagert und am Ende der Reifezeit in Flaschen abgefüllt wird. Für diese Funktion haben die Studierenden ganz verschiedene architektonische Lösungen gefunden.

Bei einem Entwurf (Milena Isaak 150-153) thront der Torkel auf einem kleinen Plateau ziemlich weit oberhalb des Wanderwegs. Die andern schliessen ihre Entwürfe entweder ober- oder unterhalb desselben an. Der Vorteil des Standortes unterhalb des Wanderwegs: Kaum Aushub. Natalie Klak 158-161 entwirft einen Kern aus drei Räumen in Stampflehm. Diesen umgibt sie mit einer hölzernen Hülle,  und schützt so die Verarbeitungs und Lagerräume vor Wind und Wetter.

Die beiden Entwürfe zum Standort oberhalb des Wegs unterscheiden sich bezüglich Anordnung der Räume ähnlich klar wie die Gotik von der Renaissance. Ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Epochen ist, dass die Gotik mit ihren Spitzbögen die Senkrechte, diejenige der Renaissance die Horizontale betont. Tatsächlich mutet der Turm mit der gedeckten Plattform von Florence Gilbert 146-149 fast mittelalterlich an, währenddem die Fassade des dem Weg entlang angelegten Entwurfs von Mara Huber 154-157 für die Renaissance typische, die Horizontale betonende Arkadenreihen aufweist. In seiner Formensprache erscheint dieser Bau aber eher als Ausprägung einer Moderne, die nach dem Minimalen strebt.

 

Was für einen Raum brauchen die Quintnerinnen und Quintner?

Bei den Entwürfen zum „Raum für Quinten“ ist die Differenz zwischen den einzelnen Lösungen am grössten. Zwei ersetzen das heute bestehende Gräppli, drei lassen das alte Gebäude stehen und setzen einen Raum ganz auf die Kante an den Abgrund zum See hin.

Einer davon ist der Entwurf von Fortunat Cavigielli 126-129. Er erlaubt mittels zwei Fenstern den Blick vom Saal hinaus auf den See. Direkt unter der Decke fängt aber ein umlaufendes Fensterband das  Licht ein, das den Ort so speziell macht. Livia Cerfeda 130-133 gibt ihrem Entwurf den Grundriss einer Kapelle. In der rundbogigen Apsis steht aber an der Stelle des Altars ein Kochherd. Die Gestaltung der Innenräume ist denn auch nicht sakral geprägt, sondern zeigt – wie in der Aufgabe vorgegeben – einen gemeinschaftlich genutzten Saal mit Küche, für die der Ort mit der besten Aussicht reserviert ist.

Den Entwurf von Noel Frozza 134-137 kann man durchaus als poetisch bezeichnen. Er spiegelt einerseits die Bergspitzen, andererseits den See an der glänzenden Dachuntersicht und lässt so auf dieser ein Bild entstehen, das Felsen und Wasser verschmelzen lässt, ständig belebt durch den Lauf der Sonne und die sich ändernde Witterung.

Auch die beiden Projekte, welche anstelle des Gräpplis gedacht sind, zeigen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Im Zentrum des Entwurfs von Nora El Dieb 138-141 steht ein Lehmbau, der das „Raupenhotel“ aufnimmt. Darum herum lässt sich in einem Holzbau die Raupenaufzucht beobachten und auf der Terrasse über dem Lehmbau gemütlich die Aussicht geniessen.

Der Entwurf von Marco Fernando Pires 142-145 schafft mehrere Räume verschiedener Grösse. Ins Zentrum aber stellt er eine Feuerstelle. Diese steht in einer steinernen Rotunde, die sich gegen den See öffnet und wenn das Feuer brennt, verkündet dies irgendetwas wie: „Hurra, wir leben noch!“

Die Entwürfe beantworten die Frage „Was für einen Raum brauchen die Quintnerinnen und Quintner?“ auf verschiedenartigste Weise. Die einzige Konstante, die ich erkennen kann, ist die gemeinschaftliche Nutzung.

 

Streifzug durch die Entwürfe des ersten Semesters

Architektur ist ein Bindeglied zwischen Utopie und Realität, aus einer Idee wird eine Skizze, ein Modell, ein Plan und im besten Fall irgendwann mal ein Bauwerk. Die Entwürfe des ersten Semester in Quinten (HS 2020) sind der Utopie näher als die des zweiten (FS 2021), denn die Entwerfenden waren völlig frei in der Wahl des Standorts und hatten keine Vorgaben betreffend Funktion des Gebäudes bzw. der Anlage zu erfüllen. Sie sind zweifelsohne sehr inspirierend. Die Resultate geben eine ungefilterte Antwort auf die Frage: Was für einen Bau wünschen sich junge Studierende der Architektur in Quinten?

Die vollständige Freiheit führte zu Utopischem, aber auch zu Entwürfen, bei denen eine Umsetzung durchaus möglich wäre. Zur ersten Kategorie gehört Sereina De Martins „Haus im See“ 84-87. Sie nutzt die Freiheit, die man auf dem See fast gezwungenermassen erhält, für eine fantasievolle kleine Villa auf einem Ponton in der Bucht vor der Knüsel-Wiese. Giorgia Minis „Schlafen im Fels“ 60-63 steht auf eine ganz besondere Weise zwischen Utopie und Realität. „Wer kommt schon auf die Idee eine Behausung in eine Felswand zu hängen und mittels Wendeltreppe von oben zu erschliessen?“, denkt sich der Realist. Der Touristiker aber sieht es als ein Angebot an, das im Outdoor-Segment durchaus erfolgreich funktionieren könnte.

Relativ realistisch erscheint auch Silas Bücherers „Fischerhaus“ 72-75, das ein Bootshaus, eine Fischküche samt Kühlraum und einen Verkaufsstand unter ein segelförmiges Dach an den See stellt. Ebenfalls zumindest denkbar ist der Pavillon, mit dem Sebastiano Bagutti  56-59 den Grat der Grundegg gegen den See hin verlängert.

Die Entwürfe des ersten Semesters inspirierten uns bei der Bestimmung der Standorte und den Vorgaben betreffs Nutzung im zweiten. Alle Nutzungen und drei von vier Standorten finden sich bereits in den Entwürfen des ersten Semesters.

 

Epilog

Es brauchte einen gewissen Abstand, bis ich auf die Ausstellung als Ganzes zurückblicken konnte. Zu stark waren die vielen einzelnen Eindrücke während der Zeit vom Aufbau bis zum Abbruch. Mit Hilfe von Melanie, Hampa, Rosmarie, Franz und Rosi, Lorenzo und Agi habe ich das Ding auf die Beine gestellt. Nicht zu vergessen sind Lucia mit ihrem künstlerischen Beitrag, Franziska als Bindeglied zwischen den Semesterprojekten der ETH und der Ausstellung und Gion, der das alles erst möglich machte. Ihnen und allen, welche die Modelle und Pläne besichtigt bzw. den Schlussanlass besucht haben, danke ich von ganzem Herzen. „Era in temp schi bi!“

Was bleibt zum Schluss? Mehr Fragen als zuvor! Aber das war schon immer so: Kann man eine Frage beantworten, stellen sich mindestens zwei neue.

 

Link zum Lehrgang:
Professor Gion A. Caminada Professur für Architektur und Entwurf

 

Impressum:
– ETH Zürich DARCH, Departement Architektur, Prof. Gion A. Caminada
– Sebastiano Bagutti, Departement Architektur, ETHZ